Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (SH-NEWS 2021/052 vom 10.06.2021)
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (SH-NEWS 2021/052 vom 10.06.2021)
(LAG; ahi) Wenn die Sprecherin für Soziales der SPD im Bundestag, Angelika Glöckner, die Abkürzung BGG frei mit „Barrieregleichstellungsgesetz“ statt Behindertengleichstellungsgesetz übersetzt und Herrn Dr. Danner als Geschäftsführer der „BAG Selbstständige“ anspricht, könnte man vermuten, dass das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFG), welches Frau Glöckner im Bundestag als Erfolg der großen Koalition anpreist, kein durchweg gutes Gesetz sein kann. Zweck des BFG soll es sein, auch Regelungen für Produkte und Dienstleistungen aus dem Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie zu treffen, um diese allen Nutzern barrierefrei zugänglich zu machen. Dazu zählen u. a. Hardwaresysteme, Selbstbedienungsterminals, Verbraucherendgeräte wie Handys und Tablets, Telekommunikationsdienste, Bankdienstleistungen sowie Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr. Das BFG überführt Anforderungen aus dem europäischen Rechtsakt zur Barrierefreiheit (Richtlinie (EU) 2019/882-EAA) in nationales Recht. Die Umsetzung ist europarechtlich verpflichtend.
Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales
Das BFG wurde am Abend des 20.05.2021 gegen die Stimmen der FDP und Bündnis 90/DIE GRÜNEN bei Stimmenthaltung der AfD und DIE LINKE von der großen Koalition verabschiedet. Zuvor kam es zu zweifelhaften Praktiken: Eine sonst übliche Anhörung von Sachverständigen in einem Ausschuss wurde kurzfristig und nur unter massiven Druck der Opposition am 17.05.2021 einberufen. Als Sachverständige nahmen an der Anhörung u. a. Dr. Martin Danner, Geschäftsführer der BAG SELBSTHILFE e. V., Dr. Sabine Bernot von der Monitoring-Stelle UN-Behindertenrechtskonvention des Deutschen Instituts für Menschenrecht sowie Christiane Möller vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband e.V. teil. Ebenfalls behandelt und anschließend abgelehnt wurde ein Antrag für umfassendere Regelungen zur Barrierefreiheit von Bündnis 90/DIE GRÜNEN.
Dieser Artikel fasst die Geschehnisse der Anhörung sowie der Verabschiedung im Bundestag zusammen und nimmt gleichzeitig Stellung zum sogenannten Barrierefreiheitsstärkungsgesetz.
Beurteilung und Kritik am Barrierefreiheitsstärkungsgesetz in der Anhörung
Das im Gesetz implementierte Schlichtungsverfahren wurde von den teilnehmenden Verbänden als ein positiver Aspekt aufgegriffen. Solche Verfahren haben sich bereits auf anderen Ebenen in der Bundes- und Landespolitik bewährt. Im weiteren Verlauf der Anhörung überwog allerdings die Kritik am Gesetzesentwurf.
Das BFG enthalte keine Anforderungen an die Barrierefreiheit der baulichen Umwelt und die Zugangswege. Daher sei es nötig, im BFG zumindest verbindliche Anforderungen an die Bundesländer zu verankern, damit diese einheitliche Regelungen für die bauliche Barrierefreiheit treffen.
Zudem seien die gesetzlich vorgesehenen Übergangsfristen für Dienstleistungen zu lang. Die Bestimmungen sehen vor, dass unter bestimmten Voraussetzungen bis zum 27. Juni 2030 die betreffenden Dienstleistungen weiterhin nicht barrierefrei angeboten werden müssen. Selbstbedienungsterminals, die vor dem 25. Juni 2025 eingesetzt werden, dürfen gar bis zum Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungsdauer, aber nicht länger als zehn Jahre nach Inbetriebnahme, weiter eingesetzt werden. Dr. Sabine Bernot wies darauf hin, dass solche Fristen erfahrungsgemäß bis zum Ende ausgenutzt werden und forderte, dass bis 2030 alles barrierefrei sein sollte.
Weiterhin kritisch betrachteten die Sachverständigen, dass die in der EU-Richtlinie festgehaltenen Verpflichtungen nicht für Kleinstunternehmer, die Dienstleistungen innerhalb des Geltungsbereiches erbringen, gelten. Um den Betrieben beim Übergang zu helfen, sollten Fördermittel zur Verfügung gestellt werden.
Ein großer Kritikpunkt aller Verbände, einschließlich der BAG SELBSTHILFE, ist zudem der Ermessensspielraum bei der Marktüberwachung. Dieser ermöglicht, dass keine Maßnahmen wie z. B. Sanktionen ergriffen werden, sollte ein Produkt nicht barrierefrei sein. Diese Regelung entspricht nicht dem European Accessibility Act (EAA), ist also im Europarecht gesetzeswidrig und wird demnach noch Konsequenzen für Deutschland nach sich ziehen.
Bewertung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes
Barrierefreiheit ist von gesamtgesellschaftlichem Nutzen. Bauliche Barrierefreiheit kommt nicht nur Menschen mit Behinderungen zu Gute. Auch ältere Menschen, Eltern mit Kinderwagen, Menschen mit schwerem Gepäck oder durch Unfallfolgen vorübergehend in ihrer Mobilität eingeschränkte Personen profitieren von baulicher Barrierefreiheit. Das sollte wohl jedem seit 20 Jahren klar sein.
Ein Blick in andere Länder zeigt, dass Barrierefreiheit keine unverhältnismäßige Belastung der Wirtschaft ist und Betriebe auch nicht in den Ruin stürzt. In den USA wurde bereits 1990 das amerikanische Behindertengleichstellungsgesetz, der Americans with Disabilities Act (ADA), verabschiedet. Für Touristen ist das Land ein Paradies: Alle Sehenswürdigkeiten sind barrierefrei zugänglich, barrierefreie Toiletten sind überall vorhanden und Mietwagen mit Handgas sind keine Rarität, sondern können praktisch überall angemietet werden.
Unser Nachbarland Österreich ist ebenfalls schon sehr viel weiter. Im bereits am 01.01.2006 in Kraft getretenen Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz (BGStG ) ist verankert, dass alle öffentlich zugänglichen Einrichtungen (wie z. B. Hotels, Restaurants, Ausflugsziele, Museen etc.) grundsätzlich barrierefrei gestaltet sein müssen. Auch für Verkehrsmittel und Systeme der Informationsverarbeitung und -vermittlung, wie z. B. Webseiten, sind Regelungen im BGStG getroffen worden.
Oftmals wird in Deutschland nicht erkannt, dass Barrierefreiheit durchaus ein Wettbewerbsvorteil sein kann und auch eine neue Zielgruppe erschließt. Menschen mit Mobilitätseinschränkungen werden wohl z. B. einen Urlaub in Österreich bevorzugen, statt sich in Deutschland durch einen undurchdringlichen Dschungel an Barrieren zu kämpfen.
Das BFG bringt den Wirtschaftsstandort Deutschland also nicht voran. Es lässt potenzielle Wettbewerbsvorteile links liegen und setzt stattdessen weiterhin auf Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung. Dass solche Maßnahmen unwirksam sind, ist schon längst erwiesen. Stattdessen ist das BFG ein Geschenk der Bundesregierung an die deutsche Wirtschaftslobby, denn der Gesetzgeber ist nicht willens, die Unternehmen zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Dazu sagte Sören Pellmann, DIE LINKE, in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales: „Zwangsverpflichtung ist nicht der richtige Weg, aber wer regelt es denn, wenn es der Markt nicht macht.“
Trotz Hinweise und berechtigter Bemängelung seitens der Sachverständigen in der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und der Gegenstimmen der Opposition wurde der Gesetzesentwurf nicht maßgeblich verändert, sondern von der Koalition am 20.05.2021 verabschiedet und als Erfolg gefeiert. In Wahrheit ist das BFG jedoch eine mutlose Minimalumsetzung des EAA, das wohl ohne den europäischen Zwang so schnell nicht umgesetzt geworden wäre. Einer Verwirklichung der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht das Gesetz unserer Meinung nach nicht.
Weitere Informationen
Wortprotokoll, Tagesordnung und Teilnahmeliste der Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales am 17.05.21
Aufzeichnung der Anhörung am 17.05.21
Aufzeichnung der Bundestagsdebatte am 20.05.21
Bild zur Meldung: Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (SH-NEWS 2021/052 vom 10.06.2021)